Nahtlos Braun - Einer muss der Erste sein

Nahtlos Braun - Einer muss der Erste sein
Nahtlos Braun - Einer muss der Erste sein
„Ungefähr ein Vierteljahrhundert ist es her, da erschienen im linken Dortmunder Weltkreis-Verlag einige Kriminalromane, die, ganz im Geist der Zeit, spannende Unterhaltung mit Sozialkritik verbinden wollten. Fremdenfeindlichkeit, neonazistische Umtriebe und politische Korruption waren die Themen, derer sich Romane mit einschlägigen Titeln wie ‚Nahtlos braun‘ oder ‚Dienst nach Vorschuss‘ annahmen. Sie spielten im Ruhrgebiet, das sich durch die Tatort-Kommissare Haferkamp (Essen) und Schimanski (Duisburg) als Krimischauplatz etabliert hatte. Auch wenn der Kölner Emons Verlag, wo bereits 1984 Christoph Gottwalds ‚Tödlicher Klüngel‘ erschien, das Verdienst, den ersten deutschen Regionalkrimi publiziert zu haben, für sich reklamiert, so waren es doch vor allem Autoren wie Werner Schmitz, Reinhard Junge und Jürgen Pomorin (unter dem Pseudonym Leo P. Ard), die das neue Genre in der deutschen Krimilandschaft etablierten“ (DIE WELT, 5.3.2011).

Es muss im Sommer 1983 gewesen sein, als mein Freund Jürgen „Jimmy“ Pomorin mich fragte, ob ich einen Stoff für einen Kriminalroman hätte. Jimmy hatte schon eine Reihe von Sachbüchern im Weltkreis-Verlag vorgelegt und war auf der Suche nach Autoren für eine Krimi-Reihe. Vom Krimi-Schreiben hatte ich keine Ahnung, aber ich hatte einen Stoff. Er beruhte auf der Lebensgeschichte des alten Bochumer Kommunisten Emil Schevenerdel. Emil hatte sie mir erzählt, ich hatte sie auf Tonband aufgenommen und abgeschrieben. Schevenerdel war als junger KPD-Mann 1933 von der SA ins „wilde“ KZ auf der stillgelegten Zeche Gibraltar an der Ruhr verschleppt und gefoltert worden. Nach dem Ende der NS-Diktatur wurde Emil Hilfspolizist. Seine Aufgabe sah er vor allem darin, Bochumer Nazis, die ihn und seine Kameraden gequält hatten, aufzuspüren und vor Gericht zu bringen. In einem Fall war ihm das auch gelungen. Kurt Straßburger, ein ehemaliger Polizist und SA-Mann, hatte 1933 im von der SA besetzten Haus der SPD-Zeitung „Volksblatt“ Verhöre durchgeführt. Sozialdemokraten und Kommunisten waren dabei grausam misshandelt worden. Nach dem Krieg lebte dieser Mann unauffällig in Bochum. Schevenerdel spürte ihn auf und brachte ihn vor Gericht. Das erzählte Emil mir jedenfalls. Aber Emil erzählte viel und manchmal wusste man nicht, was man von seinen wilden Geschichten halten sollte. Beweise hatte er keine. Ich habe mich deshalb in den Lesesaal der Stadtarchivs gesetzt und wochenlang in Akten und Zeitungen der Bochumer Nachkriegsjahre gestöbert. Nach langem Suchen fand ich in der „Westfälischen Rundschau“ eine Meldung, die mich elektrisierte. Es ging um einen Strafprozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Name es Angeklagten: Kurt Straßburger. Als Zeugen sagten die Opfer seiner Verhöre aus. Das Gericht verurteilte Straßburger zu fünf Jahren Haft. Emil Schevenerdel hatte sich recht erinnert, zumindest was den SA-Mann anging. Seine Rolle bei der Ergreifung des Täters konnte ich zwar nicht klären, aber eine spannende Geschichte war es auf jeden Fall. Ich wollte daraus eine Art Tatsachenroman machen, der im zerbombten Nachkriegsbochum spielte, und vertiefte mich wieder in Stadtarchivbestände. Vor allem das Treiben auf den Bochumer Schwarzmarkt fand ich faszinierend.
Dann kam Jimmy Pomorin mit seiner Krimi-Idee über den Hof. Das Problem daran war, dass die Bücher in der Gegenwart spielen sollten. Historische Kriminalromane standen nicht zur Debatte. Nach längerem Nachdenken fand ich eine Lösung. Emil musste im Krimi sterben und seine erfundene Enkelin Ulla Leben und Tod ihres Großvaters ergründen. Eine junge Ermittlerin machte sich nicht schlecht in einer Krimi-Reihe, die sich vor allem an ein junges Publikum richten sollte. Um mich mit den Strickmustern des Kriminalromans vertraut zu machen, las ich die zehn Krimis des linken schwedischen Autorenduos Maj Sjöwall/Per Wahlöö. Das musste reichen. Ich legte los. Während ich an dem Krimi schrieb, kam Emil Schevenerdel ab und zu vorbei, erzählte mir Geschichten und schlachtete meine Kaninchen. Einmal erschrak ich, als er vor der Tür stand. „Emil, du?“, stammelte ich. Ich war auf Seite 42 angekommen und hatte ihn gerade umgebracht. Mein Krimi erschien 1984 unter dem Titel „Nahtlos braun“ im Weltkreis-Verlag. Dass anschließend die bis heute rollende Welle der Regionalkrimis losbrach, ahnte damals noch niemand. Die Marke „Regionalkrimi“ war nicht einmal erfunden. Die Buchbesprechungen in der Presse kreisten um ein anderes Thema: die politischen Ambitionen des Buches und seines Autors. Dabei ging es – vorsichtig ausgedrückt – kontrovers zu. „Das ist eine politische Geschichte“, meldete die Westdeutsche Allgemeine Zeitung, „sie macht den Krimi doppelt spannend“ (WAZ, 1.10.1984). Der STERN sah das ganz anders: „Die ideologische Linientreue ließ nur Parteileichen übrig“ (STERN, 52/1984, S. 87). Besonders die damals noch zahlreichen Stadt- und Szenemagazine beschäftigten sich mit den neuen Krimis aus dem Weltkreis-Verlag, vor allem mit „Nahtlos braun“. Die einen sagten so: „An diesem Buch stimmt alles“ (Südschwäbische Nachrichten, 1985, S. 29). Die anderen sagten so: „Der Krimi ... ist kein Krimi mehr sondern ein Zeigefingerbuch. Und das muss nicht sein“ (wst, 1984, Stuttgart Live, S. 68). Zwischentöne waren selten. „Auch wenn das Ganze ab und an an ‚Emil und die Detektive‘ erinnert, ist das Buch doch nett zu lesen“ (Stadtmagazin Schädelspalter, 10/1984, S. 43). Ein Krimi-Großkritiker ließ wenigstens ein gutes Haar an meinem Krimi: „Interessant sind einzig jene Passagen, wo erzählt wird, wie Bochum braun wurde“ (Esslinger Zeitung, 1984). Erst 1989 erteilte der damalige „Krimi-Papst“ Jochen Schmidt dem Buch höhere Weihen: „‚Nahtlos braun‘ ist ein Roman, der die wichtige Aufarbeitung von verdrängter politischer Geschichte in die Form eines Thrillers gebracht hat, die Thrillerform aber nicht als Vorwand benutzt; schon dieser Erstling lässt das meiste, was parallel dazu an deutschen Kriminalromanen geschrieben ist, sowohl dramaturgisch als auch sprachlich um einiges hinter sich“ (Schmidt, 1989, S. 655).
Im Buchhandel wurde „Nahtlos braun“ ein Verkaufserfolg und Dauerbrenner. Der Krimi erlebte elf Auflagen, überlebte den Untergang des Weltkreis-Verlages, erschien weiter im Pahl-Rugenstein-Verlag und, als der sein belletristisches Programm einstellte, im von Rutger Booß gegründeten Grafit-Verlag. Als Grafit im Jahre 2010 das Erscheinen des Krimis nach 26 Jahren einstellte, waren 25 000 Exemplare verkauft worden. Emil Schevenerdel war da schon lange tot. „Nahtlos braun“ ist eine Art Denkmal für diesen einfachen Mann, der kaum lesen und schreiben, dafür aber umso besser Geschichten erzählen konnte. Geschichten von der Arbeit als „Nietenwärmer“ im Stahlwerk, vom Leben als Arbeitsloser auf dem Moltkemarkt, von Bochums dunkelsten Jahren zwischen 1933 und 1945. Neben Johannes Volker Wagners „Hakenkreuz über Bochum“ ist „Nahtlos braun“ wohl das Buch, das am meisten zum Wissen über die „Machtergreifung“ der NSDAP in Bochum beigetragen hat. Nicht umsonst machten Bochumer Lehrer den Krimi zur Schullektüre. Dass das Buch ganz nebenbei auch noch zur Erfindung des „Regionalkrimis“ beigetragen hat, war Zufall. Reinhard Junge, Jürgen Pomorin und ich ließen unsere Krimis einfach dort spielen, wo wir uns auskannten, in unserer Heimat, dem Ruhrpott. Joachim Feldmann beklagte vor einigen Jahren in der WELT die Folgen unserer Erfindung für die deutsche Krimilandschaft. „Böse Zungen behaupten, dass sie sich bis heute nicht von dieser literarischen Invasion erholt habe. Inzwischen wird in fast jedem Provinznest mit Begeisterung gemordet und ermittelt. Je piefiger das Kaff, desto wahnwitziger die fiktiven Morde. Von den exzentrischen Ermittlern gar nicht erst zu reden“ (DIE WELT, 2011). Leider hat der Mann Recht. Als Ausdruck tätiger Reue habe ich meine drei letzten Kriminalromane nicht mehr im Ruhrgebiet spielen lassen, sondern an so abseitigen Schauplätzen wie dem Oderbruch, Siebenbürgen und der Mosel. Mit dem Ergebnis, dass die Bücher als Oderbruch-, Siebenbürgen- oder Mosel-Krimi bezeichnet wurden. „Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los“ (Goethe, 1827, S. 217).

WERNER SCHMITZ

Zu reissenden Bestien erzogen

Über einen netten Nachbarn erzählte mir meine Mutter einmal, er sei „bei Hitler im Lager gewesen“. Sollte es bei uns in der Straße tatsächlich einen KZ-Häftling gegeben haben? Ich fragte nach. „Der August hatte seinen Schäferhund dabei“, antwortete meine Mutter. Neulich schickte mir jemand einen vergilbten Feldpostbrief dieses Nachbarn. Feldpoststempel: „SS-Totenkopfsturmbann Buchenwald“. WEITERLESEN

Plötzlich waren alle weg

Eine alte Nachbarin gab den entscheidenden Hinweis. „In Eppendorf war ja auch ein Zigeunerlager und plötzlich waren alle weg.“ Von einem Lager in seinem beschaulichen Stadtteil hatte ich noch nie gehört. Er machte sich auf die Suche, fand heraus, wo das Lager stand, wie die Eppendorfer darauf reagierten und warum die Sinti „plötzlich alle weg waren“.
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